Einleitung: Eine erfolgreich auf Klimaneutralität ausgerichtete Industriepolitik braucht Geschwindigkeit!
Deutschland befindet sich auf dem Weg in eine neue industriepolitische Zukunft. Hierfür müssen insbesondere die entsprechenden energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Die Zeit drängt, aber die industriepolitische Praxis zeigt, dass die notwendigen Verfahren im Bereich der Planung und Genehmigung für eine effektive Transformation deutlich zu lange dauern. Während eine Welle von gesetzlichen Beschleunigungsnovellen in den vergangenen Jahren insgesamt nur punktuelle Beschleunigungseffekte erbracht hat, sind systematische Beschleunigungswirkungen bislang nicht erreicht worden.
Für die nächste Phase einer systematische Umsetzungsbeschleunigung haben wir als „Netzwerk 10: Plattform für Beschleunigung“ daher auf der Basis von praxisbezogenem Erfahrungswissen mit Expertinnen und Experten aus Regionalplanung, Genehmigungsrecht, Industrie, Netzbetrieb und Politik für die systematische Umsetzungsbeschleunigung in Deutschland folgende acht Thesen aufgestellt:
1. Integrierte Energiesystemplanung
Durch eine integrierte Energiesystemplanung, die Erzeugung, Speicherung, Transport und Abnahme der erneuerbaren Energien mit einem erforderlichen Netzausbau im Zusammenhang betrachtet, wird Industrie in Deutschland in effizienter Weise klimaneutral.
Die für energieintensive Prozesse erforderliche Verfügbarkeit von erneuerbar produzierter Elektrizität erfordert eine grundlegende Synchronisierung der Planung von Erzeugung, Speicherung, Transport und Abnahme des Stromsystems mit dem Netzausbau. Aktuell ist der Netzausbau aber weder hinreichend mit der Bereitstellung von Windenergiegebieten noch mit der wachsenden Zahl von großen PV-Anlagen koordiniert bzw. synchronisiert und stellt damit einen zentralen Flaschenhals der Energiewende dar. Vor allem der Ausbau von Stromtrassen unterhalb der Übertragungsnetzebene ist noch nicht hinreichend beschleunigt, weil unter anderem die Chancen zur Bündelung von Trassen bzw. die Mehrfachnutzung vorhandener Trassen noch nicht optimal genutzt werden. Zudem ist der aktuellen Rechtsrahmen („Windhundprinzip“) bei der Vergabe von Steckplätzen und Einspeisepunkten an Umspannwerken nicht netzdienlich, weil eine bedarfsorientierte Priorisierung und damit die sinnvolle Steuerung von Abnahme und Verbrauch nicht möglich ist.
Erforderlich ist aus diesen Gründen eine integrierte räumliche und fachliche Planung der energetischen Transformation in Deutschland, welche den künftigen Ausbau der Erzeugung Erneuerbarer Energien, den Netzausbau und die Optimierungsmöglichkeiten im Netz sowie absehbare Energiebedarfe (insbesondere energieintensiver Industriestandorte) in einen Zusammenhang bringt und untereinander koordiniert. Zudem ist eine Veränderung des Rechtsrahmens in der Weise erforderlich, dass die Kombination von Anlagen zur Erzeugung von Windenergie und von PV im selben Gebietsumgriff, z. B. durch Festlegung von „Vorrangstandorten zur Erzeugung erneuerbarer Energien“ in den Regionalplänen, ermöglicht wird. Hierdurch würde auch die Planung der Netzanschlüsse erleichtert. Schon in der Planungsphase von entsprechenden Gebieten ist dabei eine Abstimmung mit den Netzbetreibern zwingend vorzusehen und es sind die Chancen zur Bündelung von Trassen bzw. die Mehrfachnutzung vorhandener Trassen durch eine bessere Zusammenarbeit der Netzbetreiber zu nutzen. Zudem ist zu prüfen, inwieweit durch eine Änderung des regulatorischen Rahmens ausreichend Netzzugänge für (industrielle) Großabnehmer vorbereitet werden könnten, um auf diese Weise ein sinnvolles Verhältnis aus Erzeugung und Abnahme erneuerbarer Energien im Rahmen der Netzplanung zu erreichen.
2. Flächensicherung und Flächenentwicklung
Mittels einer proaktiven Flächensicherung und Flächenentwicklung in den Bundesländern werden frühzeitig und angebotsorientiert Standorte für die Industrien der Zukunft gesichert.
Konkrete Baurechte für größere, energieintensive Industrievorhaben in Gestalt von bereits rechtskräftigen Bebauungsplänen sind – anders als dies z. B. bei der Ansiedlung der Tesla- Gigafabrik in Grünheide der Fall war – in der Regel nicht „auf Vorrat“ vorhanden. Gerade für große industrielle Ansiedlungen aber dauern neue Bauleitplanverfahren mit Blick auf den internationalen Standortwettbewerb in Deutschland sehr lange. Zudem fehlt es bundesweit an einem Überblick, an welchen Standorten geeignete Flächen mit einer Größenordnung über 100 ha und insbesondere einem Zugang zu den erforderlichen Mengen an erneuerbaren Energien verfügbar sind.
Für eine strategische Neuaufstellung der Industriepolitik in Deutschland sollten geeignete Ansiedlungsflächen von 100ha und mehr bundesweit proaktiv identifiziert und planerisch vorentwickelt werden. Zu diesem Zweck wird empfohlen, sehr zeitnah bundesweit die Entwicklung von mindestens zehn geeigneten Flächen für die Ansiedlung neuer industrieller Großbetriebe auszuschreiben, die wichtige Beiträge zur klimaneutralen Transformation leisten können. In diesem Sinne sollte die Bundesregierung einen Wettbewerb ausschreiben, in dem sich Kommunen mit geeigneten Flächen bewerben können. Im nächsten Schritt soll die raumordnerischen Sicherung und rechtsverbindlichen Überplanung der entsprechenden Flächen erfolgen. Auf diesen raumordnerischen Festlegungen kann sodann die Bauleitplanung der betroffenen Gemeinden unmittelbar aufsetzen. Dies wiederum würde zu einem Beschleunigungseffekt führen. Zudem sind die Netzausbauplanungen in Abstimmung mit den Netzbetreibern entsprechend hieran auszurichten. Darüber hinaus ist mittelfristig ein bundesweites digitales Ansiedlungsflächenkataster anzustreben, welches Idealerweise die kommunalen Bauleitpläne mit aktuellen Karten- und Luftbildquellen sowie den online verfügbaren Daten zu Netzanschlusskapazitäten der Übertragungsnetzbetreiber verlinkt.
3. Sonderplanungszonen
Durch die Einrichtung von Sonderplanungszonen und Vorranggebieten für transformative Industrien werden rasche Ansiedlungen von Zukunftsindustrien ermöglicht.
Einige industrielle Großansiedlungen der jüngeren Vergangenheit basieren auf besonderen individuellen Rahmenbedingungen wie vorhandenem Baurecht, risikobereiten Vorhabenträgern oder einer optimal funktionierenden Zusammenarbeit aller beteiligten Stakeholder. Aufgrund des Baus von neuen Anlagen bzw. erforderlicher Umbaumaßnahmen, die für das Erreichen von Klimaneutralität in der Industrie notwendig sind, wird sich die Anzahl der Genehmigungsverfahren in Deutschland in den nächsten Jahren stark erhöhen, was eine weiter zunehmende Belastung der Genehmigungsbehörden nach sich zieht. Dies erfordert die Erprobung neuer Ansätze zur Deregulierung in räumlich abgegrenzten Bereichen.
Der unter Ziffer 2 vorgeschlagene Wettbewerb zur Entwicklung von mindestens zehn geeigneten Flächen für die Ansiedlung neuer industrieller Großbetriebe und der bevorstehende Prozess zur Implementierung der sogenannten „Net Zero Valleys“ sollten genutzt werden, um in räumlich abgegrenzten Bereichen eine Absenkung bestehender regulatorischer Anforderungen für besonders relevante Planungs- und Genehmigungsverfahren im Sinne eines „Reallabor“- Ansatzes zu erproben. Auf der Grundlage der hieraus gewonnenen Erkenntnisse sind nach Abschluss der zeitlich begrenzten Erprobungsphase entsprechende Veränderungen des bundesweiten Rechtsrahmes anzustreben. Bei Ansiedlungsvorhaben von überregionaler Bedeutung müssen zudem die nach Landesrecht zuständigen Planungs- und Genehmigungsbehörden durch „Experten-Task-Forces“ der Länder unterstützt werden.
4. Interförderale Prozessplattform
Durch die Einführung einer digitalen, interföderalen Prozessplattform werden Planungs- und Genehmigungsprozesse medienbruchfrei auch zwischen Behörden verschiedener föderaler Ebenen durchgeführt. Dabei macht der Einsatz von Künstlicher Intelligenz Verwaltungsprozesse effizienter.
In der behördlichen Praxis beinhalten Genehmigungs- und Planungsprozesse in der Regel Beteiligungsschritte innerhalb unterschiedlicher föderaler Ebenen. In der Praxis kommt es hier häufig zu signifikanten Verzögerungen durch diverse Medienbrüche, da zwischen unterschiedlichen Fachanwendungen bzw. zwischen digitalen und analogen Aktenmaterialien gewechselt werden muss. Zudem fehlen Verfahren und Tools, die eine gemeinsame, zeitgleiche Arbeit, etwa an Planungsdokumenten, ermöglichen.
Für eine effizientere und schnellere Beteiligung zwischen den Behörden, kann eine übergreifende digitale Prozessplattform die nahtlose Kooperation sichern. Diese Plattform könnte etwa auf der Grundlage der von BMWK und BMI initiierten, KI-gestützten, „Ende-zu-Ende-Plattform zur Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung“ entwickelt werden und auch Schnittstellen zu digitalen Datenbanken, z. B. Umweltdaten, enthalten. Durch das kollaborative, papierlose Arbeiten aller relevanten Stakeholder entstünde eine Prozessbeschleunigung sowohl in Genehmigungs- als auch in Planungsprozessen. Ergänzt werden sollte die Plattform durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz, die bspw. im Rahmen von Beteiligungsprozessen genutzt werden kann oder um Antragsunterlagen einer ersten Sichtung, inhaltlichen Clusterung sowie Checks auf Plausibilität und Rechtskonformität zu unterziehen.
5. Standardisierung von fachlichen Vorgaben
Die Standardisierung von fachlichen Vorgaben bei Umweltprüfungen schafft Rechtssicherheit für Planungs- und Genehmigungsbehörden und steigert die Nachvollziehbarkeit für Antragstellende.
Ein wesentlicher Grund für Verzögerungen in Genehmigungsverfahren sind insbesondere die aufwändigen und zeitraubenden umweltrechtlichen Prüfungsverfahren, die UVP, die Artenschutzprüfung, die FFH-Verträglichkeitsprüfung und die Prüfung der Einhaltung wasserrechtlicher Bewirtschaftungsziele. Dabei fällt auf, dass Umfang und Detailtiefe von Antragsunterlagen in Deutschland trotz des weitgehend identischen Rechtsrahmens im europäischen Vergleich (insbesondere im Umweltrecht) sehr hoch sind. Dadurch kommt es vielfach auch zu deutlichen Engpässen bei externen Gutachtern, die diese Unterlagen erarbeiten müssen.
Damit für die handelnden Behörden ein Höchstmaß an Rechtssicherheit gewährleistet werden kann, ist eine weitgehende Standardisierung der Anforderungen für umweltfachliche Prüfungen entweder durch den Gesetzgeber selbst oder durch die Einsetzung fachkundiger Gremien anzustreben. Als erster positiver Schritt in diese Richtung ist beispielhaft die Regelung des § 45b BNatSchG zu nennen, mit der artenschutzrechtliche Standards für Windenergieanlagen an Land geschaffen wurden. Weitere Schritte, zum Beispiel im Hinblick auf eine schlanke und gleichzeitig rechtssichere Durchführung von (flächenbezogenen) Strategischen Umweltprüfungen (SUP) sind hier jedoch geboten.
6. Vorzeitige Zulassungen und Teilgenehmigungen
Durch eine stärkere Nutzung von vorzeitigen Zulassungen und Teilgenehmigungen bei Vorhaben wird eine realisierungsorientierte Genehmigungspraxis zum Standard
Die im BImSchG vorgesehenen Teilgenehmigungen und vorzeitigen Zulassungen für Vorhaben können die Realisierung von Vorhaben in der Praxis beschleunigen, da mit Hilfe dieser rechtlichen Instrumente bereits mit Bauvorhaben begonnen kann bevor die endgültige Genehmigung vorliegt. Allerdings erfordert deren Nutzung ein gewisse Risikobereitschaft der Vorhabenträger weil mögliche Rückbauverpflichtungen finanziell abgesichert werden müssen. Daher scheuen weniger finanzkräftige Antragstellende teilweise diese Instrumente. Auch manche Behörden bewerben diese Beschleunigungsmöglichkeiten in Anbetracht (vermeintlicher) rechtlicher und politischer Risiken nicht offensiv.
Antragstellende sollten darin bestärkt werden, die Instrumente der vorzeitigen Zulassungen und der Teilgenehmigungen im Rahmen von BImSchG-Verfahren umfassend zu nutzen. Genehmigungsbehörden müssen diese hierbei proaktiv unterstützen und beraten. Für Projekte, die in einem besonderen öffentlichen Interesse sind, sollte der Bund gemeinsam mit den Ländern ergänzende öffentliche Finanzierungsinstrumente entwickeln, die zur Absicherung der Risikoübernahme durch die Vorhabenträger im Rahmen der vorzeitigen Zulassungen beitragen. Diese könnten etwa ähnlich der so genannten „Hermesbürgschaften“ ausgestaltet werden.
7. Bundeseigene Personalagentur
Der Bund und die Länder gründen einen Expertenpool „Planung und Genehmigung“, der Knowhow bündelt und bei komplexen Vorhaben Länder und Kommunen durch die Entsendung von Task-Forces vor Ort unterstützt.
Die Genehmigungsbehörden des Bundes, der Länder und Kommunen leiden bereits heute an einem Mangel an ausreichendem Personal, welches z. B. über erforderliches Spezialwissen verfügt. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren infolge des demografischen Wandels weiter fortsetzen. Auch die Möglichkeiten zur externen Vergabe von fachlichen Fragenstellungen an Gutachterbüros sind weitgehend ausgeschöpft.
Um zu gewährleisten, dass bei herausgehobenen Vorhaben in einem bestimmten Verfahrensstadium erforderliches Expertenwissen rechtzeitig zur Verfügung steht, sollten die Länder mit ihren Kommunen zunächst gemeinsame Poollösungen für entsprechend aus- und fortgebildetes Fachpersonal vorantreiben. Weiter muss eine bundesweite Personalagentur geschaffen werden, welche den Ländern als deren Gesellschaftern bei Vorhaben von besonderer Bedeutung kurzfristig über eine Personalgestellung entsprechendes Fachpersonal bereitstellt. Von weiterer zentraler Bedeutung ist zudem der bundesweite Wissenstransfer und Fachaustausch der Behörden aus den einzelnen Bundesländern zu Erfahrungen mit klimaschutzrelevanten Vorhaben und großindustriellen Ansiedlungen. Hier ist der Bund gefordert, zeitnah eine entsprechende digitale Vernetzungsplattform aufzubauen.
8. Akzeptanz
Eine frühzeitige Beteiligung sichert Akzeptanz und beschleunigt Prozesse.
Sowohl der Netzausbau als auch die mit der Energiewende verbundene Transformation der Industrie werden erhebliche Um- und Neubautätigkeiten auch an bislang nicht industriell genutzten Standorten zur Folge haben. Einwendungen und Klagen von Betroffenen stellen auch hier eine weitere Quelle von Verzögerungen dar. Um aufwändigen Gerichtsverfahren und politischen Widerständen auf kommunaler Ebene vorzubeugen, muss die Öffentlichkeit möglichst frühzeitig beteiligt werden, um die Akzeptanz von Vorhaben zu erhöhen.
Durch eine frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit werden kritische Punkte frühzeitig identifiziert und in der Planung berücksichtigt. Der Austausch im Rahmen einer frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung sollte dabei neben digitalen Formaten auch im Rahmen des persönlichen Austausches zwischen Betroffenen und Projektbeteiligten stattfinden, damit einvernehmliche Lösungen im unmittelbaren Dialog gefunden werden können. Bei Vorhaben mit einer besonderen Relevanz für den Klimaschutz sollte das jeweilige Projekt im Rahmen einer umfassenden Information der Bürgerinnen und Bürger im Kontext eines Gesamtnarrativs über die Energietransformation bzw. neue Energielandschaften dargestellt werden.
Umsetzungsbeschleunigung für die klimaneutrale Transformation Deutschlands
Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten von Thilo Rohlfs und Axel Priebs


